Dr. Wolfgang Leupold

Prüfer für russische und sowjetische Philatelie

„Zurück lt. Zirkular vom 16.V.1923 Nr. 24/691 …“ Sonderbehandlung unterfrankierter Briefe nach Deutschland im Herbst 1923

von Dr. Wolfgang Leupold / Schleiz und Anton Shatylo / Cherkassy

Abbildung 1. Vorder- und Rückseite eines rätselhaften Briefes vom 4.10.1923 aus Odessa

Einen Brief mit sehr ungewöhnlichem Laufweg zeigt Abbildung 1:

– 4.10.23 – Der Brief nach Berlin wird mit einer Frankatur in Höhe von 30 Rubel auf dem Bahnhofspostamt ODESSA aufgegeben, wobei das Porto eines Auslandsbriefes am 1. Oktober auf 45 Rubel erhöht wurde.

– 8.10.23 – Durchgangsstempel der 5. Expedition des Hauptpostamtes MOSKAU

– Hier wahrscheinlich mit dem Großen Rechteckstempel (Abb. 2) versehen,                  

– 10.10.23 – Eingangsstempel ODESSA

– 11.10.23 – Erneut versendet vom Bahnhofspostamt ODESSA, nun portogerecht mit 45 Rubel frankiert.

– Gleichzeitig wurde wahrscheinlich der große Rechteckstempel (als erledigt) durchgestrichen.

ВОЗВРАЩАЕТСЯ НА ОСНОВАНИИ
ЦИРК. Н.К.П.иТ. от 16/V-23г. № 24/691
   П.-Т. Работник
   
Abbildung 2: Rechteckstempel der Briefvorderseite

Der Text des Stempels lautet auf Deutsch etwa: ZURÜCK AUF GRUNDLAGE des ZIRKulars des  Volks Kommissariats für Post u. Telekomunikation  vom 16.5.23  Nr. 24/691.

PostTelegrafen Mitarbeiter    – Unterschrift –

Viele Jahre konnten wir uns nicht erklären, wie  dieser Brief zu Stand gekommen ist. Des Rätsels Lösung brachte ein Studienaufenthalt in der Bibliothek des Postmuseums in St. Petersburg. Dort fand sich tatsächlich ein Zirkular Nr. 24/691 vom 16.5.1923 (1).

Darin heißt es in Punkt 3 unter anderem:   

„Unbezahlte oder nicht vollständig bezahlte  Briefe,  Postkarten oder Streifbandsendungen nach Deutschland oder Polen, … sind nicht weiter zu befördern …“.

Und in Punkt 5 steht u. a., „die laut Punkt 3 ins Ausland nicht weiter zu befördernden Postsendungen … sind an den Absender zurück zu geben“.

Zur Aufklärung unseres Briefes benötigten wir aber noch eine weitere Instruktion, die bereits am 16.1.1923 beschlossen wurde, „Über die Verfahrensweise der Versendung und Abrechnung von Nachportosendungen“ (2).

Hier heißt es in Punkt 17: „Die Rückgabe der unbezahlten oder nicht vollständig bezahlten Sendungen an den Absender hat so zu erfolgen, dass von ihm die Gebühr eingezogen wird, die vom Empfänger für die erstmalige Versendung des Poststückes zu entrichten wäre“.

Das heißt, dass der Absender praktisch zweimal bezahlen muss.

Diese mit Zirkular Nr. 24/691 und der Instruktion vom 16.2.23 festgelegte Verfahrensweise ist als eine besondere Art der Berechnung des NACHPORTOs zu verstehen, das hier nicht – wie üblich – vom Empfänger, sondern vom Absender zu bezahlen ist.    

Die in beiden Verordnungen festgelegte Verfahrensweise können wir an Hand unseres Briefes gut  nachvollziehen:

Der Brief wurde in Odessa am 4.10.23 an Stelle von nötigen 45 Rubel nur mit 30 Rubel frankiert aufgegeben. Das ist dem Postmitarbeiter am 8.10. in Moskau aufgefallen. Er versah den Brief mit dem großen Rechteckstempel und schickte ihn an den Absender nach Odessa zurück (Eingang 8.10.). Der Absender wurde schnell gefunden. Er entrichtete nun das tarifgerechte Briefporto in Höhe von 45 Rubel (ohne Anrechnung der bereits gezahlten 30 Rubel) und der Brief wurde am 9.10.23 von Odessa regulär nach Berlin versendet.

Als Bestätigung unserer Annahmen können wir über einen zweiten Brief berichten, der ebenfalls den großen Rechteckstempel mit Hinweis auf das Zirkular Nr. 24/691 trägt (Abb. 3).

Abbildung 3: Unterfrankierter Brief aus Odessa vom 4.10.23, der entsprechend dem Zirkular Nr. 24/691 behandelt und am 24.10.23 mit portogerechter Frankatur erneut nach Deutschland versendet wurde.

Überraschender Weise wurde der Brief aus Abb. 3 auch am 4. Oktober 1923 in ODESSA aufgegeben oder in den Briefkasten geworfen. Er ist ebenfalls nur mit 30 Rubel frankiert, dem Portosatz, der nur bis zum 30. September Gültigkeit hatte. Er ging offensichtlich mit gleicher Post, wie der Brief aus Abb. 1 nach MOSKAU und erhielt hier ebenfalls am 8.10.23 den Durchgangsstempel der 5. Expedition des Hauptpostamtes. Hier wurde er auch mit dem großen Rechteckstempel (Abb. 2) versehen, der die Unterschrift des gleichen Postbeamten trägt. Er wurde zurück nach Odessa gesendet, wo er ebenfalls den Stempel vom 10.10.23 erhielt.

Hier trennen sich aber die Wege beider Briefe. Unser zweiter Brief erhielt nämlich in zeitlicher Reihenfolge betrachtet am 14.10.23 erneut einen Moskauer Stempel. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Unterstellen wir einmal, daß der Odessaer Postbeamte das Zirkular Nr. 24/691 nicht kannte und annahm, der Brief sei irrtümlich wieder in Odessa gelandet.

Deshalb schickte er ihn erneut auf die Reise nach Deutschland. Damit landete der Brief am 14.10.23 wieder auf der 5. Expedition des Moskauer Hauptpostamtes, von wo er gemäß Zirkular 24/691 zum zweiten male an den Absender in Odessa returniert wurde. 

Im Oktober 1923 befinden wir uns – wie fast gleichzeitig in Deutschland – in der Endphase der Inflation. Die alten Papierrubel verloren von Tag zu Tag an Wert. Deshalb gab es am 16. Oktober eine erneute Portoerhöhung. Mittlerweile wurden in der Sowjetunion Briefmarken in Goldwährung verausgabt. Deshalb wurden die Posttarife nun in Goldwährung verkündet. Ein einfacher Auslandsbrief kostete ab 16.10.1923 20 Goldkopeken.

Es dauerte offensichtlich einige Tage, bis der am 14.10. aus Moskau zurück gesendete Brief zu seinem Absender in Odessa fand. Entsprechend Zirkular 24/691 musste der Absender seinen Brief nochmals komplett entsprechend des aktuellen Portosatzes mit 20 (Gold) Kopeken frankieren, so dass er am 24.10.23 erfolgreich von der Odessaer Post nach Deutschland versendet werden konnte.

Es ist durch diese Verfahrensweise eine seltene Mischfrankatur aus inflationären Rubelmarken des Jahres 1923 und Marken der so genannten Goldenen Standardausgabe entstanden.

Uns ist nicht bekannt, über welchen Zeitraum die oben geschilderte Verfahrensweise für unterfrankierte Postsendungen bzw. Nachportosendungen nach Deutschland Anwendung fand.

Vielleicht gibt es unter der geschätzten Leserschaft Sammler, die über ähnliche Briefe in ihren Beständen gerätselt haben. Über eine Rückmeldung würden sich die Autoren freuen. 

Literatur:

(1)  “О доплате за международные почтовые отправления”. Ц. № 24/691 от 16.V.1923 г., Бюллетень НКПиТ № 19 от 1923 г., С. 4.

(2) “Приказ. О введении в действие утвержденной 16 января 1923 г. инструкции о порядке пересылки и учета доплатных почтовых отправлений. Инструкция.” Ц. от 17.II.1923 г. № 32/194, Бюллетень НКПиТ № 6, 1923 г. С. 3 – 5.