Dr. Wolfgang Leupold

Prüfer für russische und sowjetische Philatelie

Kettensprenger-Marken

Übersicht

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution

Die Kettensprenger-Marken als Zeitzeugen einer epochalen Umwälzung

 

Vor mehr als 34 Jahren hat Herr Mikulski in unseren ARGE-Mitteilungen einen ausführlichen Artikel über die Kettensprengermarken geschrieben (1) und dabei (zwar nur in schwarz-weiß) besonders seine unikalen Essays vorgestellt. Mittlerweile gibt es einige neue Erkenntnisse über diese Marken, auch sind erheblich mehr Bedarfsverwendungen bekannt geworden.
Die Marken erschienen seinerzeit zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution, nun jährt sich dieses geschichtsträchtige Ereignis zum einhundertsten Male. Ich möchte nachfolgend die bis heute gewonnenen Erkenntnisse zusammen fassen und die Vorgeschichte und Verwendung der Marken etwas genauer beleuchten.

Die Geschichte der Markenausgabe beginnt im Februar 1917. Als Folge mächtiger Demonstrationen der Arbeiter und meuternder Soldaten der örtlichen Garnisonen hatte Zar Nikolaus II. abgedankt (Bild 1) und es bildete sich die so genannte Doppelherrschaft heraus aus dem Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) einerseits und der aus Vertretern der Duma bestehenden Provisorische Regierung andererseits.

 

Bild 1: Notgeldmarken mit dem Abbild Nikolaus II. mit privat initiiertem kopfstehendem schwarzem Aufdruck der ersten Seite der „Iswestia“ des Petrograder Sowjets der Arbeiter und Soldatendeputierten vom 4. März 1917 mit der Abdankungserklärung des Zaren.

 

Der Provisorischen Regierung erschien es wichtig, dass die Briefmarken mit den Zarensymbolen von den Postschaltern verschwinden. So berichtet der Petrograder Briefmarkenhändler E. Eichental bereits in der Aprilausgabe 1917 seines Journals „Filatelie“, dass das Ministerium für Post und Telegrafie mehrere Künstler zur Vorlage von Entwürfen für neue Briefmarken zu einem Wettbewerb eingeladen habe.

 

Bild 2: Essay „Russischer Recke mit Schwert und Schild“ in schwarz auf dickem weißem Kartonpapier.

 

In der Juni-Ausgabe hieß es im Journal „Filatelie“, dass eine Jury unter einer Reihe von Vorschlägen fünf Zeichnungen verschiedener Künstler zum baldigen Druck ausgewählt habe, darunter „Russischer Recke mit Schwert und Schild“ (Bild 2) und „Hand mit Schwert zerschlägt Kette“ (Bild 3).

 

Bild 3: Entwurf „Hand mit Schwert, das eine Kette zerschlägt“ von Richard Sarrinsch auf dickem weißem Kartonpapier

 

Im weiteren Vorbereitungsprozess der neuen Markenausgabe konzentrierte man sich offensichtlich auf den letztgenannten Entwurf und ließ in den Folgemonaten eine Reihe von Probedrucken in verschiedenen Farben und Wertstufen herstellen. Hier seien nur einige Stücke aus der Sammlung des Autors gezeigt. So existieren allein vom Zentrum der Marke Proben in 7 verschiedenen Farben (Bild 4).

 

Bild 4: Probedruck des Zentrums der Marke in der Größe 26 x 32 mm auf dickem ungummiertem Kartonpapier

 

Drei oder vier unterschiedliche Proben mit Nominalen zu 15 und 20 Kopeken wurden auf dickem glänzendem Kartonpapier (Bild 5) hergestellt.

 

Bild 5: Probedruck in olivgrün in der Größe 55 x 65 mm auf ungummiertem glänzendem Kartonpapier

 

Weiterhin sind etwa zehn verschiedene Probedrucke zu 7, 10, 14, 15, und 20 Kopeken mit unterschiedlichen Ornamenten auf normalem gummierten Papier (Bild 6) bekannt, die meisten davon gezähnt.

 

Bild 6: Probedruck auf gummiertem normalem Papier, der in Farbe und Markenbild genau mit der später verausgabten 35 Kopekenmarke übereinstimmt (hier nur 10 Kop.)

 

Der stürmische Verlauf der Geschichte rückte wahrscheinlich die kurzfristig geplante Herausgabe dieser Briefmarken etwas in den Hintergrund. Nach neuesten Recherchen des Moskauer Briefmarkenprüfers Nicolay Mandrovskiy soll am 6. September 1917 der Druckauftrag über 60 Millionen Stück „Kettensprengermarken“ zu 35 Kopeken erteilt worden sein, mit deren Herstellung auch umgehend begonnen wurde. Es sollen bis zum 16. Dezember 1917 mehr als 31 Millionen dieser Marken gedruckt worden sein. Die Bestellung von 15 Millionen Marken zu 70 Kopeken soll am 14. Oktober 1917 erteilt worden sein, also auch noch vor der Oktoberrevolution. Mit dem Druck der 70 Kopeken-Marken wurde aber 1917 nicht mehr begonnen.

Bisher war man der Meinung, daß der Druck der „Kettensprengermarken“ erst von der Sowjetregierung im Vorfeld des 1. Jahrestages der Oktoberrevolution in Auftrag gegeben wurde. Bekannterweise haben sich mit diesen Marken schon Generationen von Sammlern beschäftigt. Es wurden bereits viele Artikel darüber geschrieben und spezielle Exponate ausgestellt – und trotzdem blieben bisher viele Fragen ungeklärt. Mit den neuen Rechercheergebnissen Mandrovskiys lassen sich nun einige Rätsel lösen.

So konnte man sich bisher nicht recht erklären, warum die Marken oben in der Mitte die Landesbezeichnung РОССІЯ tragen, wo doch im Januar 1918 die RSFSR gegründet wurde. Noch dazu wurde das Wort mit „I“ geschrieben, obwohl mit der 1918 eingeführten neuen Rechtschreibereform der Buchstabe „I“ durch „И“ ersetzt wurde (richtig wäre „РОССИЯ“). Wenn die Marken natürlich schon 1917 gedruckt wurden, beantworten sich beide Fragen von selbst.

Dann war da F. G. Tschutschin, Verantwortlicher für Philatelie und Wertzeichen der UdSSR, der den ersten sowjetischen Briefmarkenkatalog veröffentlichte und die Marken unter den Ausgaben der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) wie folgt registrierte: „1917. Ausgabe Kerenskis mit Darstellung einer Hand, die eine Kette zerschlägt …“. Als Nachsatz schreibt er: „Diese Marken wurden durch die Provisorische Regierung Kerenskis hergestellt (изготовлены russ.), kamen aber erst nach dem Oktober 1917 in Verkehr …“.

Offensichtlich hatte er mit genau dieser Wortwahl den Kern getroffen, wurde in der Folgezeit aber „umgedeutet“. In den späteren sowjetischen Katalogen wurde aus dem Wort „изготовлены“ (hergestellt) das Wort „подготовлены“, was heißt vorbereitet. Möglicherweise hatte dies auch politische Hintergründe. Schließlich sollten die ersten revolutionären Briefmarken Sowjetrusslands nicht schon von der bürgerlichen Provisorischen Regierung gedruckt worden sein. Übrigens schlossen sich auch die einschlägigen Briefmarkenkataloge der westlichen Welt der neuen sowjetischen Auslegung an und schrieben, wie beispielsweise ein Michel-Katalog aus dem Jahre 1933: „Diese Ausgabe war von der Regierung Kerenski vorbereitet, kam aber erst nach der Oktoberrevolution d. J. 1917 in Verkehr …“

Ich fand einen Artikel von V. Charitonov, in dem er an Hand verschiedener Tatsachen und Hypothesen bereits im Jahre 1991 (2) zu dem Schluß kam, daß die Kettensprengermarken bereits im Herbst 1917 oder Frühjahr 1918 gedruckt worden sein müssen. Er führt auch nochmals den Petrograder Briefmarkenhändler Eichental an, der in seiner November / Dezember – Ausgabe „Filatelie“ des Jahres 1917 berichtet haben soll, daß demnächst zwei neue Briefmarken zu 35- und 70 Kopeken mit der Zeichnung einer Hand, die eine Kette zerschlägt, verausgabt werden sollen.

Etwas rätselhaft bleiben aber immer noch die Geschehnisse im Frühjahr 1918. Es wird berichtet, dass unter Leitung des Volkskommissariats für Erziehung eine spezielle Abteilung für angewandte Kunst eingerichtet wurde, die verschiedene Wettbewerbe zur Gestaltung neuer Staatssymbole, der Flagge, von Banknoten, Münzen und Briefmarken organisierte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt die in Bild 7 gezeigte Handzeichnung daraus.

 

Bild 7: Nicht verausgabter Entwurf für die ersten Briefmarken der RSFSR mit Darstellung einer Friedenstaube mit Lorbeerkranz und den neuen Staatssymbolen Hammer und Sichel sowie der Landesbezeichnung RSFSR auf dicker Pappe. Originalgröße 182 x 125 mm

 

Die eingereichten Entwürfe spiegelten aber – wie berichtet wird – nicht in ausreichendem Maße die grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen wieder und wurden abgelehnt. So soll man sich der ausdrucksstarken Sarrinsch-Entwürfe vom Frühjahr 1917 erinnert haben.
Dieser Interpretation kann man sich bei der genaueren Betrachtung des SarrinschEntwurfs (Bild 3) durchaus anschließen: Im Zentrum die muskulöse Hand mit dem Schwert, die mit energischer Bewegung die Kette (des Zarismus) sprengt und im Hintergrund die aufgehende Sonne der Freiheit.
Der Künstler hat sich übrigens mit den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens „P“ (russisches „R“ für Richard) und „З“ (russisches „S“ für Sarrinsch) unter dem Oval rechts und links verewigt.

Andererseits könnte aber auch der seit Frühjahr 1918 sich verstärkende Bürgerkrieg ein entscheidender Grund dafür sein, dass die mit erheblichen Kosten verbundene Herausgabe neuer Briefmarken der RSFSR an Wichtigkeit zurück treten mußte und man gern auf die bereits fertigen Kettensprengermarken zurückgriff.

Im St. Petersburger Postmuseum befindet sich ein Vorlagekarton mit den beiden später verausgabten Marken mit Bestätigungsvermerk und Unterschrift des Volkskommissars für Post und Telegrafie, V. Podbelski, vom 27. Mai 1918. Auf dem Karton kleben eine blaue Marke zu 35 Kopeken und eine braune Marke zu 70 Kopeken. Laut der Recherchen Mandrowskiys wurde im Jahre 1918 eine zweite Auflage der 35 Kopeken-Marke gedruckt, möglicherweise erst nach der o.g. Bestätigung durch Podbelski. Diese Teilauflage wurden im August 1918 von der Druckerei ausgeliefert. Mitte August sollen auch alle 70 Kopeken-Marken ausgeliefert worden sein, wann genau deren Druck erfolgte, ist nicht bekannt.
Nach den Berechnungen Mandrovskiys ergeben sich folgende Auflagenzahlen:

  • 35 Kopeken-Marke – rund 63,3 Millionen Stück,
  • 70 Kopeken-Marke – rund 18,9 Millionen Stück.

Laut Rundschreiben des Volkskommissariats für Post und Telegrafie wurde für den ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, den 7. November 1918 (25. Oktober – nach alter Zeitrechnung), die Ausgabe neuer revolutionärer Postwertzeichen angekündigt. Der tatsächliche Ausgabetag der Marken ist immer noch etwas strittig, da bisher kein Beleg mit eindeutigem Stempel vom 7.11.18 gesichtet wurde.
Demgegenüber sind bisher relativ viele Einzelmarken mit Stempeldaten vor dem 7.11.18 bekannt. Die Echtheit dieser „Frühverwendungen“ muß erst einmal angezweifelt werden. Kennen wir doch gerade aus der Bürgerkriegszeit auch viele Belege, bei denen nicht nur Tag und Monat, sondern auch die Jahreszahl des Stempels falsch eingestellt waren. Wenn aber die Marken schon lange Zeit vor dem Ausgabetag fertig gestellt waren (was wir lt. der Recherchen N. Mandrovskiys annehmen müssen), wären Verwendungen der Marken vor dem 7.11.18 nicht ganz auszuschließen. Diese Meinung vertritt auch Fomin in (3) auf Seite 139 und verweist u.a. auf Charitonov (2).

 

Verwendung der Marken

Während des Vorbereitungsprozesses der Kettensprengermarken mußte man davon ausgehen, daß die Postgebühren in absehbarer Zeit erheblich zu erhöhen sind, was die Sowjetmacht am 28. Februar 1918 auch tat. Einfache Fernbriefe kosteten von nun an 35 Kopeken und die Einschreibgebühr 70 Kopeken. Dazu passten die beiden Marken genau. Die Staatspost sah sich aber gezwungen, im Kampf gegen private Postdienste die Tarife am 15. September 1918 zu senken, die Postkarte auf 10 Kopeken, den einfachen Brief auf 25 Kopeken und den Einschreibzuschlag auf 50 Kopeken.

Am  Ausgabetag waren die Marken also nicht mehr paßfähig zu den aktuellen Tarifen. Deshalb finden wir Bedarfsstücke mit diesen Marken meist als Mischfrankaturen mit alten Zarenmarken (Bild 9 und 10). Für eine portogerechte Einzelfrankatur gab es nun nur noch eine Möglichkeit, die eingeschriebene Postkarte. Eine von ganz wenigen derartigen Bedarfsstücken aus dem Jahre 1918 zeigt Bild 8.

 

Bild 8: Eingeschriebene Karte gestempelt in Moskau am 16.12.18. Im rückseitigen Text werden akute Probleme bei der Beschaffung von Mehl geschildert. Die 35 Kopeken-Marke entspricht dem seit 15.9.1918 geltenden Tarif einer eingeschriebenen Postkarte.

 

Am 1. Januar 1919 führte die Sowjetmacht die gebührenfreie Beförderung einfacher Briefe und Postkarten ein. Dies ist auch ein Grund dafür, daß es relativ wenige Be-darfsbriefe mit Kettensprengermarken gibt (Bild 9). Häufiger anzutreffen sind die Marken auf Einzahlungsquittungen oder ganzen Seiten aus Nachweisbüchern für Wertpakete aus Archivunterlagen der Petrograder Postämter.

Bild 9: Eingeschriebener Fernbrief am 28.2.1919 von Moskau nach Korjukovka portogerecht mit 50 Kopeken frankiert. Mischfrankatur der Mi.-Nr. 149 mit 3 Stück Mi.-Nr. 67

 

Bild 10: Vorder- und Rückseite eines Blattes aus dem Nachweisbuch für versicherte Pakete der 3. Expedition des Petrograder Hauptpostamtes vom 10.5.1919

 

In der Forschung über die Kettensprengermarken hat sich der Moskauer Philatelist P. Masur einen unvergesslichen Namen gemacht. Seit 1968 hat er über fast 20 Jahre eine große Zahl von Artikeln besonders für die sowjetische philatelistische Presse geschrieben, in denen er die Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlichte und auch viele Erkenntnisse von Lesern der „Filatelia SSSR“ einbezog. So wurden beispielsweise in (4) und (5) die Orte veröffentlicht, von denen Belege und gestempelte Kettensprengermarken aus den Jahren 1918 – 1921 bekannt sind.

 

Bedarfsbelege als Zeitzeugen der Geschichte

Als die Kettensprengermarken das Licht der Welt erblickten, herrschte in Sowjetrussland Bürgerkrieg. Als revolutionäre Briefmarken fanden sie nur in den Landesteilen Verwendung, die sich in der Hand der Sowjetmacht bzw. der Roten Armee befanden. Als Beispiel möchte ich das Baltikum aufgreifen.
Nach der Novemberrevolution in Deutschland erfolgte ein schneller Rückzug der deutschen Truppen aus den besetzten baltischen Gebieten. Daraufhin wurde vom „Lettischen Volksrat“ am 18.11.1918 die bürgerliche Republik Lettland ausgerufen, die aber von den nationalen Minderheiten nicht anerkannt wurde und unter der lettischen Bevölkerung anfangs wenig Rückhalt hatte. Parallel dazu wurde im Dezember 1918 die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik verkündet, deren Macht mit Hilfe der roten lettischen Schützenregimenter binnen weniger Wochen in großen Teilen Lettlands errichtet wurde. Die aus östlicher Richtung vorrückenden Schützenregimenter nahmen Anfang Dezember die ersten Lettischen Orte ein.

 

Bild 11: Paketkarte aus Marienburg, handschriftlich entwertet mit „Мариенбург 20 / III“ nach Riga (rückseitiger Ankunftsstempel 26.3.19)

 

So wurde z.B. in den lettischen Städten MARIENBURG (lett. Aluksne) und AltSCHWANBURG (lett. Wez-Gulbene) am 10. Dezember 1918 die Sowjetmacht errichtet. Bild 11 und 12 zeigen die Verwendung der Kettensprengermarken als Symbole der Sowjetmacht in diesen Orten.

 

Bild 12: Paketkarte aus Alt-Schwanburg, entwertet mit einem neuen Stempel „WEZ-GULBENE“ (dieser Stempeltyp wurde im Januar 1919 bestellt und kam ab März zeitversetzt in Lettland zum Einsatz).

 

Nach Einzug der Roten Armee nahm die Regierung der Lettischen SSR am 4.1.1919 in Riga ihre Arbeit auf (vom 13.-15.1.1919 tagte der 1. Lettische Kongreß der Arbeiter-, Bauern- u. Soldatenräte). Nachdem durch Aufrufe in den Tageszeitungen die Postmitarbeiter aufgefordert wurden, sich wieder zum Dienst zu melden (6), nahm die Post am 15. Januar 1919 wieder die Arbeit auf. Nach dem Vorbild der RSFSR galt in Räte-Lettland ab dem 1.1.1919 auch Portofreiheit für Postkarten und einfache Briefe. Der Gefälligkeitsstempel vom 20.1.19 (Bild 13) und der Brief vom 7.2.19 (Bild 14) zeigen, daß mit der Machtübernahme der Sowjets auch zeitnah der Verkauf von Kettensprengermarken als Symbole der Sowjetmacht auf den Postämtern begann.

Bild 13: Bereits 5 Tage nach Wiederaufnahme des Postverkehrs in Riga unter der Sowjetmacht am 20.1.19 gestempelte Kettensprengermarken. Der verwendete Stempel mit der Bezeichnung „LATWIJA“ wurde von der bürgerlichen Regierung bestellt, kam aber erst zur Sowjetzeit zum Einsatz.

 

Bild 14: Der mit 1,05 Rbl. nach dem Tarif von 1918 frankierte Ortseinschreibbrief (aktuell wären nur 50 Kop. nötig gewesen) ist wohl der Kategorie „philatelistisch beeinflusst“ zuzuschreiben.

 

Bekanntermaßen formierten sich im Frühjahr 1919 aus allen Himmelsrichtungen antisowjetischen Kräfte. Unter General von der Goltz begann im März eine Offensive deutschbaltischer Einheiten, die in der Einnahme Rigas am 22. Mai 1919 gipfelte. Ende Mai 1919 endete damit in den meisten Lettischen Orten auch die Verwendungszeit der Kettensprengermarken.

 

Bild 15: Markenpaar (Position 79-80) mit altem russischem Stempel RIGA 2.5.19 aus den letzten Tagen der Räterepublik.

In Folge der inflationären Entwicklung in den Jahren 1919 und 1920 verloren die Kettensprengermarken für Frankaturzwecke zunehmend an Bedeutung und wurden letztendlich per 25. März 1921 offiziell aus dem Verkehr gezogen. Mit verschiedenen Aufdrucken finden wir die Marken aber noch viele Jahre, so wurden sie letztmalig 1933 als Tauschkontrollmarken verausgabt.

Wenden wir uns nun den Marken an sich zu.

 

Druck der Marken

Die Marken wurden im Buchdruck hergestellt. Ein Druckbogen bestand aus zwei nebeneinander befindlichen 100er Schalterbogen (10 x 10). Die Druckplatten beider Bogen unterscheiden sich deutlich von einander, so daß von jeder Marke zwei verschiedene Bogentypen existieren; nachfolgend nennen wir sie jeweils den linken bzw. den rechten Schalterbogen. Die Bogenränder wurden gewöhnlich nicht bedruckt.

Die einzelnen Druckstöckel der jeweiligen Druckplatte weisen sehr viele Besonderheiten auf, so daß man fast jede zweite Marke einer bestimmten Bogenposition und einer bestimmten Druckplatte zuordnen kann. Der rechte obere Bogenteil des rechten Schalterbogens der 70 Kopeken-Marke kann dafür als beredtes Beispiel dienen (Bild 16). Und dabei handelt es sich nicht um irgendwelche „Fliegenschisse“, sondern um sich wiederholende Plattenfehler bzw. Besonderheiten der einzelnen Druckstöckel.

Bild 16: Typische Besonderheiten eines Ausschnittes des rechten Schalterbogens

 

 

Bekanntesten Plattenfehler:

35 Kopeken-Marke – linker Schalterbogen

 

  • Abdruck des Klischeenagels links neben Feld 51 (Bild 17)
Bild 17: Oben links Abdruck / Loch vom Klischeenagel

 

  • Feld 33 sitzt etwa 0,75mm höher als die benachbarten Marken
Bild 18: Erhöht sitzende mittlere Marke

 

  • Feld 54. Unter und über dem „П“ in „КОП“ erscheinen „weiße Punkte“ im Ergebnis des Bruches der blauen Linien (Bild 19)
Bild 19: „Weiße Punkte“ über und unter „П“

 

  • Feld 71. Rahmen gebrochen unter „CC“ (Bild 20)
Bild 20: Gebrochener Rahmen unter „CC“

 

 

35 Kopeken-Marke – rechter Schalterbogen

  • Abdruck des Klischeenagels rechts neben Feld 60 (Bild 21)
Bild 21: Oben rechts Abdruck / Loch vom Klischeenagel

 

  • Feld 2. „K“ und „O“ in „КОП“ verstümmelt, „О“ und „П“ getrennt, Mi.-Nr. 149 III (Bild 22)
Bild 22: „K“ und „O“ verstümmelt, „О“ und „П“ getrennt

 

  • Feld 5. Punkt in „O“ (Bild 23)
Bild 23: Punkt in „O“

 

  • Feld 34. Obere Rahmenlinie nach oben gebogen, Mi.-Nr. 149 I (Bild 24)
Bild 24: Obere Rahmenlinie nach oben gebogen

 

  • Feld 99. Sehr markantes dünnes „O“ in „РОССІЯ“, Mi.-Nr. 149 II (Bild 25)
Bild 25: Dünnes „O“ in „РОССІЯ“

 

 

 

Schalterbogen mit blauen Streifen

Von der 35 Kopeken-Marke kommen wenige Bogen vor, die auf dem Oberrand (Bild 2627) und dem Unterrand (Bild 28) einen blauen Streifen aufweisen. Das könnte auf eine zusätzliche Auflage hinweisen, wobei aber die Marken dieser Bogen die gleichen Feldmerkmale aufweisen, wie die oben beschriebenen „gewöhnlichen“ Bogen mit unbedrucktem Rand. Sie wurden also mit den gleichen Druckplatten hergestellt. Etwas auffällig ist, daß die mir vorliegenden Einheiten mit blauen Streifen besonders viele Abarten aufweisen, die wir nachfolgend noch beschreiben werden; so beispielsweise fehlenden Kreideaufdruck oder Fehlzähnung.

Bild 26: Viererblock der Felder 3-4 und 13-14 vom linken Schalterbogen mit starker Verzähnung

 

Bild 27: Viererblock der Felder 8-9 und 18-19 vom linken Schalterbogen ohne Kreideaufdruck

 

Bild 28: Senkrechtes Paar der Felder 87 und 97 aus dem linken Schalterbogen mit blauem Streifen auf dem Unterrand. Obere Marke mit, untere Marke ohne Kreideaufdruck

 

 

70 Kopeken-Marke – linker Schalterbogen

 

  • Abdruck des Klischeenagels links neben Feld 51 (Bild 29)
Bild 29: Oben links Abdruck / Loch vom Klischeenagel

 

  • Feld 8. Beschädigtes Blatt oben rechts, Mi.Nr. 150 IV (Bild 30)
Bild 30: Beschädigtes Blatt

 

  • Feld 12. „І“ und „Я“ in „РОССІЯ“ getrennt, Mi.Nr. 150 III (Bild 31)
Bild 31: „І“ und „Я“ in „РОССІЯ“ getrennt

 

  • Feld 80. Oben offenes „O“ in „РОССІЯ“, Mi.Nr. 150 II (Bild 32)
Bild 32: Oben offenes „O“ in „РОССІЯ“

 

  • Feld 83. „O“ in „КОП“ unten offen (Bild 33)
Bild: 33: „O“ in „КОП“ unten offen

 

 

70 Kopeken-Marke – rechter Schalterbogen

 

  • Abdruck des Klischeenagels rechts neben Pos. 51
  • Feld 5. Beschädigtes „P“ und „O“ in „РОССІЯ“, Mi.-Nr. 150 I (Bild 34)
Bild 34: Beschädigtes „P“ und „O“

 

 

Wenn man nicht selbst im Besitz von Vergleichsbogen ist, so kann bei der Feldbestimmung der Spezialkatalog der ROSSICA (7) helfen.

Beide Marken existieren mit verschiedenen Varianten von Abklatschen (Bild 35, 36).

Bild 35: Bogenmaschinenabklatsche, bei denen Abklatsch und vorderes Markenbild zusammenfallen.

 

Bild 35: Bogenmaschinenabklatsche, bei denen Abklatsch und vorderes Markenbild zusammenfallen.

 

Bild 36: Verschobener Bogenmaschinenabklatsch. Der Abklatsch ist gegenüber dem
Markenbild auf der Vorderseite stark verschoben.

 

Bild 36: Verschobener Bogenmaschinenabklatsch. Der Abklatsch ist gegenüber dem
Markenbild auf der Vorderseite stark verschoben.

 

 

Kreideaufdruck

Die Kettensprengermarken wurden nach dem Vorbild der seit 1908 verausgabten russischen Freimarken mit rutenförmigem Kreideaufdruck versehen, der angeblich vor Wiederverwendung gestempelter Marken schützen sollte. Der Kreideaufdruck kommt mit unterschiedlich dicken Linien mit einer Stärke etwa zwischen 0,8 und 1,5 mm vor, was vom Abnutzungsgrad der Druckplatten herrührt. Während der Kreideaufdruck gewöhnlich weiß wirkt, findet man manchmal gestempelte Marken mit gelblicher Kreide. So zum Beispiel auf Quittungen aus den Nachweisbüchern der Petrograder Postämter (Bild 10). Bild 37 zeigt diesen Effekt deutlich. Da der gelbliche Kreideaufdruck bei diesen Quittungen auch auf den darauf befindlichen russischen Freimarken sehr deutlich hervor tritt, scheint die Ursache in der jahrzehntelangen Lagerung dieser Stücke im Archiv unter Druck, Luftabschluß und … zu liegen.

Bild 37: Dicker gelblicher Kreideaufdruck

 

Es existieren Kettensprengermarken ohne Kreideaufdruck. Bei bestimmten Farbnuancen soll es auch möglich sein, den Kreideaufdruck leicht komplett entfernen zu können. Oftmals erkennt man ihn auch erst nach sehr intensiver Untersuchung. Man sollte deshalb die oft angebotenen Marken „ohne Kreideaufdruck“ nicht überbewerten.

Wie auch bei Michel katalogisiert, kommen beide Marken mit Kreideaufdruck auf der Rückseite an Stelle des Aufdrucks auf der Vorderseite vor. Die 70 Kopeken-Marke ist auch mit beidseitigem Kreideaufdruck bekannt. Es kommen auch Marken vor, die nur zum Teil mit Kreideaufdruck überzogen sind.

 

Farben

Zu den Farben ist zu sagen, daß besonders die 35 Kopeken-Marke in vielen Blautönen vorkommt. In mehreren Katalogen werden neben der Farbe blau die Farbabarten hellblau, dunkelblau und graublau mit etwa gleichen Preisen aufgeführt. In mehreren russischen Katalogen ist noch die Farbe „himmelblau“ mit einem wesentlich höheren Preis ausgewiesen. Den hellblauen (himmelblauen) Farbton zweifelt Fomin (3) nicht ganz zu Unrecht an, in dem er hier nicht eine andere Farbe, sondern nur einen sehr schwachen Farbauftrag der (normalen) blauen Farbe vermutet.
Ich möchte für den nächsten Spezialkatalog als markante Farbabart „türkisblau“ empfehlen (Bild 38), die auch bei der ROSSICA (7) registriert ist und sehr selten vorkommt.

Bild 38: Markante bei Michel nicht katalogisierte Farbabarten: türkisblau, olivbraun

 

Bild 38: Markante bei Michel nicht katalogisierte Farbabarten: türkisblau, olivbraun

 

Die Farbskala der 70 Kopeken-Marke reicht von hell- bis dunkelbraun ohne nennenswerten Preisunterschied. Auch hier könnte im nächsten Spezialkatalog eine zusätzliche Farbabart aufgenommen werden, nämlich olivbraun (Bild 35). Diese klar unterscheidbare Abart weisen auch mehrere russische Kataloge aus, sie kommt recht selten vor.

 

Zähnung

Die Marken wurden mit Kammzähnung 13½ hergestellt. Um einen Bogen komplett durchzuzähnen musste die kammartige Zähnungsleiste den Bogen 11x von unten nach oben durchlochen. Mit der 11. Operation wurde die oberste wagerechte Zahnreihe der Marken hergestellt und der Oberrand senkrecht gelocht (Bild 39, oben).

Bild 39: Unterer (erster) und oberer (elfter) Kammschlag einer kompletten Bogenzähnung.

 

Bild 39: Unterer (erster) und oberer (elfter) Kammschlag einer kompletten Bogenzähnung.

 

Bei einer nicht sehr großen Anzahl von Bogen beider Wertstufen ist die 11. Zähnungsoperation ausgefallen und es entstanden oben ungezähnte Marken (Bild 40).

Bild 40: Oben ungezähnter Fünferstreifen der Felder 1–5 vom rechten Schalterbogen.

 

Bei einigen Bogen beider Marken wurde die Zähnungsleiste bei der 11. Operation nach oben versetzt (Bild 41), wodurch größere Marken mit einer Höhe von etwa 34mm an Stelle 30mm entstanden.

Bild 41: Vergrößerte Marke durch Versatz der Zähnung

 

Wahrscheinlich kam über den sowjetischen Philateliehandel auch Druckmakulatur in Sammlerhand. So zum Beispiel Marken mit zum Teil stark verschobener Zähnung (Bild 26, 42) und Marken mit Papierfalten (Bild 43).

Bild 42: Starke Verzähnungen

 

Bild 42: Starke Verzähnungen

 

Bild 43: Bogenteil mit Papierfalte

 

Einige Bogen der Marken blieben auch gänzlich ungezähnt. Von der 35 KopekenMarke (Bild 44) existieren mehrere Bogen, von der 70 Kopeken-Marke wahrscheinlich nur ein einziger. Herr Mikulsiki schreibt in (1), daß die wenigen ihm bekannten echten Stücke alle das russische Garantiezeichen tragen (Bild 45) und wahrscheinlich alle aus dem gleichen Bogen stammen. Diese Feststellung kann ich nur bestätigen.

Bild 44: Ungezähntes Paar der 35 Kopeken-Marke (Mi.-Nr. 149 U). Feld 24–25 vom linken Druckbogen

 

Bild 45: Ungezähntes Paar der 70 Kopeken-Marke (Mi.-Nr. 150 U), daneben Rückseite mit doppeltem sowjetischem Garantiezeichen.

 

Bild 45: Ungezähntes Paar der 70 Kopeken-Marke (Mi.-Nr. 150 U), daneben Rückseite mit doppeltem sowjetischem Garantiezeichen.

 

Wer öfters in Auktionskatalogen blättert, findet die ungezähnte 70 Kopeken-Marke relativ häufig und zweifelt möglicherweise die Aussage der großen Seltenheit dieser Marke an. Hier muß ich einwenden, daß die vielfach angebotenen ungezähnten Marken fast alle verfälschte Stücke sind. Meist weisen sie oben einen breiten Rand auf und sind aus oben ungezähnten Stücken hergestellt (Bild 46). Manchmal werden auch Marken mit etwas dezentralisiertem Bild allseitig beschnitten und auf diese Weise ungezähnte Marken vorgetäuscht, wie aus einer mir unlängst vorgelegten Prüfsendung (Bild 47). Auf einer aktuellen Jubiläumsauktion werden die in Bild 48 abgebildeten verfälschten Marken angeboten, bemerkenswert ist auch das Datum des Phantasiestempels „24.11.18“, ein Tag vor der offiziellen Ausgabe! Echte ungezähnte Kettensprengermarken müssen mindestens eine Breite von 25mm aufweisen!

Bild 46: Oben ungezähnte Marke dreiseitig beschnitten

 

Bild 47: Vierseitig beschnittene – verfälschte Marken

 

Bild 47: Vierseitig beschnittene – verfälschte Marken

 

Bild 48: Vierseitig beschnitten + FALSCH – Stempel

 

Die ungezähnte 70 Kopeken Marke kommt wahrscheinlich nur ungebraucht vor, da die wenigen Exemplare erst nach der Kurszeit über den Philateliehandel verkauft worden sein sollen. Die ungezähnte 35 Kopeken-Marke wurde tatsächlich postalisch verwendet. Die mir bekannten echt gestempelten Exemplare tragen Stempel der Orte НЯНДОМА (Bild 49) und ПРОНСКЪ. Natürlich gibt es auch Marken mit gefälschten Stempeln, so ist z. B. ein Brief mit dem Falschstempel МОСКВА „А“ bekannt.

Bild 49: Ungezähntes Paar mit echtem Stempel „НЯНДОМА ОЛОН. a“

 

Es existieren auch Ganzfälschungen der 70 Kopeken-Marke (Bild 50) zum Schaden der Sammler. Sie sind leicht erkennbar an Hand mehrerer Merkmale: Steindruck statt Buchdruck (rückseitig also keine Prägung erkennbar), Linienzähnung 11½ (an Stelle der Kammzähnung 13½), kein Kreideaufdruck. Aber, die Fälschungen werden gegenwärtig weit teurer gehandelt als die postfrischen echten Marken.

Bild 50: Ganzfälschung

 

Im ersten Teil unserer Ausführungen sind wir bereits auf die Landesbezeichnung auf den Marken eingegangen. Lesen wir doch „РОССІЯ“ mit „I“, obwohl mit der 1918 eingeführten neuen Rechtschreibereform der Buchstabe „I“ durch „И“ ersetzt wurde. Interessanterweise tauchen auf großen Auktionen ab und an Markenentwürfe auf, die den Kettensprengermarken ähneln, aber die Landesbezeichnung РОССИЯ tragen. Diese stammen wahrscheinlich aus dem Jahre 1919 aus Versuchen der Sowjetmacht, GeldBriefmarken auf dicker Pappe heraus zu geben (Bild 51), wie wir sie aus den Jahren 1915-17 kennen.

Bild 51: Fotoessay für die geplante Herausgabe von Geld-Briefmarken im Muster der
Kettensprengermarken.

 

 

 

Literatur:

(1) Mikulski Z.: Die Verhinderten KerenskyAusgaben. Russisch-Sowjetische Philatelie. Mitteilungsheft der BAG Russland-UdSSR. Nr. 32, S. 20 – 29.

(2) Charitonov V.: Когда были выпущены советские марки Nr. 1-2 ? Филателия CCCP. 1991. Nr. 11, S. 45-46.

(3) Fomin E.: Briefmarken Russlands 19081923. Katalog-Handbuch. München 1997

(4) Masur P.: Пoчтовоe обращениe революционных марок 1918 года. Филателияя CCCP. 1971. Nr. 6, S. 36-39

(5) Masur P.: О почтовом обращении революционных марок выпуска 1918 года. Филателияя CCCP. 1972. Nr. 12, S. 34-36

(6) Lukaschewitz H.: Die Auswirkungen der bolschewistischen Besetzung 1918 – 1920 auf die Postgeschichte Lettlands. Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft Lettland. Folge 3.

(7) ROSSICA. Catalog of the RSFSR 19181923. Section 3, S. 1 – 85.