Dr. Wolfgang Leupold

Prüfer für russische und sowjetische Philatelie

Deutsche Auswanderer in Russland – zwischen Katharina der Großen und Josef W. Stalin

Teil 2.   Der lange Weg zu einer autonomen Einheit der Deutschen Auswanderer im Wolgagebiet

In Teil 1 14 wurden die größeren Einwanderungswellen der Deutschen in verschiedene Teile des großen Russischen Reiches zwischen 1763 und Mitte des 19. Jahrhunderts beleuchtet. Im Folgenden möchte ich mich auf die weiteren Geschehnisse im größten relativ geschlossenen Einwanderungsgebiet der Deutschen, den Siedlungen im Wolgagebiet, konzentrieren.

Der Glaube an Gott verband die Siedler und gab ihnen Halt.

In den einzelnen deutschen Kolonien hatten sich meist Einwanderer der gleichen Glaubensrichtung nieder gelassen. Auch dem Kontakt mit benachbarten anderen Nationalitäten gingen sie aus dem Weg, Heirat mit Russen war in den ersten Jahrzehnten so gut wie ausgeschlossen. Eckpfeiler zur Erhaltung des Deutschtums waren ihre Kirchen und Schulen.   

Neben Katholiken und Mennoniten überwogen im Wolgagebiet Anhänger der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Das Wolgagebiet war in zwei Propsteien untergliedert, die Probstei der Bergseite und die der Wiesenseite (der Wolga). Beide Synoden unterstanden dem Moskauer Konsistorium. Der mir vorliegende Protokollband der 1851 abgehaltenen Kreissynoden vermittelt einen guten Eindruck über die hier behandelten sehr praxisbezogene Themen, wie z. B. Regeln über die Anstellung und Entlassung von Schullehrern oder die negativen Folgen der Kirchensühne für „gefallene Mädchen“. Während es in den südrussischen Kolonien zur Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten kam, hat sich im Wolgagebiet eine Art Union beider Glaubensrichtungen gebildet. Die Synode nannte ganz konkrete Szenarien, die der evangelische Prediger bei der Taufe und Abendmahlsgabe in reformierten Gemeinden zu befolgen hat, „ohne die Reformierten von ihrer Väter Glauben zum Lutherischen zu bekehren … aus Liebe zu den Glaubensgenossen“.   

– 1 – Protokollband der im Jahre 1851 abgehaltenen zwei Kreissynoden der Propsteien der Berg- und der Wiesenseite, an denen jeweils sieben bis zehn Pastoren der zugehörigen Kirchgemeinden teilnahmen.

Neugründung von Tochterkolonien aus Landknappheit

Nachdem sich die deutschen Kolonien sehr gut entwickelt hatten und die  Siedler zu  Wohlstand kamen, nahm die Zahl ihrer Kinder deutlich zu; im Wolgagebiet hatte jede Familie durchschnittlich acht Kinder. Ursprünglich nicht verteiltes „Reserveland“ war schnell aufgebraucht. In Folge der Erbteilung entfielen laut Volkszählung von 1834 auf jede männliche Person auf der Bergseite (westlich der Wolga) nur noch 7-10 Desjatinen Land.

Mit einem Regierungsbeschluß vom 12. März 1840 wurde den deutschen Kolonisten an der Wolga neues Land zur Besiedlung frei gegeben. Dieses befand sich oft in beträchtlicher Entfernung von den bisherigen Siedlungen. So entstanden zwischen 1847 und 1864 etwa 60 neue Kolonien. Vielfach tragen die Namen der Tochterkolonien  die Vorsilbe „Neu-…“.

Beispielsweise war 1766 die deutsche Kolonie Dönhof im Kanton Balzer gegründet worden. Fast hundert Jahre später wurde auf bisher unverteiltem Land 1863 die Tochterkolonie NEU DÖNHOF im Kanton Frank gegründet. Ein Brief aus dem Jahre 1934 offenbart einige Unklarheiten über die deutsche Schreibweise.

– 2 – Mit DERULUFT beförderter eingeschriebener Luftpostbrief der Maria Scheinhalz über Berlin C2 (30.7.34) in die USA. Der rechte Einschreibstempel lautet auf „Neu Dönnhof“, der linke R-stempel handschriftlich auf „Nej Denhof“ und der zweisprachige Poststempel schließlich auf „Neu Denhof“.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren in den Gouvernements Saratow und Samara etwa 190 deutsche Kolonien entstanden, denen vom Zaren eine gewisse Autonomie gewährt wurde. Als offizielles Verwaltungszentrum der deutschen Kolonisten im Wolgagebiet entwickelte sich das am gegenüberliegenden Ufer von Saratow gelegene POKROWSK.

– 3 – Erster zweizeiliger Poststempel der Siedlung Pokrowsk.

– 4 – Ansichtskarte der Siedlung Pokrowsk „zuk. Stadt“ mit einem gut sichtbaren Schild „Manufakturladen A.S. Henning“

Aufhebung der Privilegien

Dank der begrenzten Autonomie, der bekannten deutschen Sparsamkeit, des Fleißes und auch der verhältnismäßig großen technischen Kenntnisse gehörten die deutschen Kolonisten bald zu den wohlhabendsten Bauern in Russland. Dies war wohl ein Grund dafür, daß Zar Alexander II. 1871 alle Privilegien der Kolonisten aufhob, die ihnen vor über hundert Jahren durch Katharina die Große gewährt wurden. So wurden die deutschen Bauern den russischen Bauern gleich gestellt. Daraufhin wanderte einen Reihe deutscher Kolonisten nach Amerika aus.

Die Deutschen mussten ab 1874 auch Wehrdienst leisten, konnten aber im Ausnahmefall gegen entsprechendes Entgelt russische Ersatzmänner verpflichten. 

– 5 – Spezieller Soldatenbrief mit Darstellung der Ausbildungsdisziplinen aus dem Jahre 1906.

– 6 – Absenderangabe auf einem Streifband an einen dänischen Pfarrer des deutschstämmigen Gerhard Spinkler: „Einjähr. Freiwilliger, 2.Caukasisches Sapeur-Bataillon. Tiflis. Russ.Caucasien“  

Eisenbahnbau

1871 erreichte der Eisenbahnbau aus Richtung Moskau – Rjazan die Stadt Saratow am Westufer der Wolga. In Folge des industriellen Aufschwungs in den 1890er Jahren wurde in Russland der Eisenbahnbau auch auf abgelegene Gebiete ausgedehnt. Die Riazan-Koslover wurde in Riazan-Uralsker Eisenbahngesellschaft umbenannt und nahm den Bau der Eisenbahnstrecke von Saratow über URBACH nach Uralsk in Angriff, wodurch auch deutsche Kolonien im Wolgagebiet an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen wurden.

– 7 – Linke Hälfte einer Eisenbahn-Anleihe der Direktion der Riazan-Uralsker Eisenbahngesellschaft zur Finanzierung des Eisenbahnbaus der Strecke Riazan-Uralsk mit Ausbau der deutschen Kolonie URBACH zu einem Eisenbahnknotenpunkt.

Die Eisenbahnstrecke von dem am Ostufer der Wolga gelegenen Pokrowsk nach Urbach wurde 1894 fertig gestellt und bereits 1895 konnte die von Urbach nach Süden führende Strecke bis Alexandrow-Gaj in Betrieb genommen werden.  

– 8 – Ausschnitt aus dem Eisenbahn- u. Verkehrsatlas um 1900. Die fast 2000 m breite Wolga trennte die Eisenbahnnetze im Osten und Westen noch für viele Jahre. Ab 1896 verkehrte zwischen Saratow und Pokrowsk eine Eisenbahnfähre. 

– 9 – Die Postkarte aus der deutschen Kolonie Morgentau wurde vom 15. zum 16.11.1900 auf dem Landwege nach Krasny-Kut befördert, am 17.11. der Eisenbahnlinie 158 (Aleksandrow Gaj – Urbach) übergeben, in Urbach auf die Eisenbahn in Richtung Westen (Linie 152) umgeladen, erreichte bereits am 20.11. St. Petersburg und am 5.12. Hamburg.

SARPINKA

Als ältesten Industriezweig der Wolgadeutschen kann man die SARPINKA-Weberei bezeichnen, die in der Herrnhuter Kolonie Sarepta ihren Ursprung hat. Als die Nachfrage nach dem speziellen hochwertigen indigofarbene Baumwollstoff zu groß wurde, kooperierten die Herrnhuter mit deutschen Kolonien der Bergseite. Es wird berichtet, daß im Jahre 1837 etwa 1.000 Bauern in den Kolonien südlich Saratow in den Wintermonaten am Webstuhl arbeiteten.

Die 1765 gegründete deutsche Kolonie BALZER (1912 – über 10.000 deutsche Einwohner) wurde später zum Zentrum der wolgadeutschen Textilindustrie. Hier entstand 1901 die erste Textilfabrik, die zu Sowjetzeiten im Staatstrust der Sarpinka-Industrie SARPINTRUST aufging. 

– 10 – Postkarte der Verwaltung des Staatstrusts der Sarpinka-Industrie mit zweisprachigem Poststempel BALZER 1928.

Nicht zuletzt durch den 1. Weltkrieg kam es zu Anfeindungen von Seiten der russischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen und zum Erlass eines Gesetzes „gegen deutsche Überfremdung“, was aber aufgrund der Kriegswirren und der Februarrevolution nur teilweise zur Umsetzung gelangte. Am 6. Februar 1917 hatte Zar Nikolaus II. noch die „Liquidationsgesetze“ über die Enteignung der Deutschen an der Wolga bestätigt. In Folge der siegreichen Februarrevolution in Petrograd und Saratow wurden sie aber am 3. März 1918 wieder ausgesetzt.    

Schritte zur Autonomie

Nach der Oktoberrevolution und der Machtergreifung durch die Bolschewiki wurde am 30. April 1918 in Saratow ein „Kommissariat für die Angelegenheiten der Wolgadeutschen“ geschaffen, mit dessen Leitung der spätere regierende Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, betraut wurde. Unter dem Volkskommissar für Nationalitätenfragen, Joseph Stalin, stand Reuter damit an der Wiege der Autonomie der Wolgadeutschen.

– 11 – Ernst Reuter

Am 19. Oktober 1918 unterzeichnete Lenin als Regierungschef nach zweitägiger umfassender Beratung das Dekret über die Gründung der Arbeitskommune (des autonomen Gebiets) der Wolgadeutschen. Bis März 1919 wurden daraufhin 214 rein deutsche Dörfer aus den Gouvernements Saratow und Samara ausgegliedert, wodurch 

das wolgadeutsche Gebiet aus mehreren, nicht immer mit einander verbundenen Territorien und Einsprengseln bestand mit einer Gesamtfläche von 19.694 km². Das Zentrum der Arbeitskommune wurde im Mai 1919 von Saratow nach Katharinenstadt verlegt, das am 4. Juni 1919 in Marxstadt umbenannt wurde.

– 12 – „NEMKOMMUNA“ (Deutsche Kommune) hieß eine Tabaksorte, die  in den frühen 20er Jahren in Marxstadt hergestellt wurde. (Bild einer 30g Tabakpackung)

Bürgerkrieg und Hungersnot

Der sich 1919 verstärkende Bürgerkrieg hatte für die Wolgadeutschen zum Teil verheerende Auswirkungen. In Folge Lenins Politik des Kriegskommunismus wurden die Bauern gezwungen, große Mengen Lebensmittel für Versorgung der Großstädte  abzuliefern und für die Rote Armee Rekruten, Pferde und Futter bereitzustellen.

Während des Bürgerkrieges wurden die deutschen Siedlungen dazu noch von den bewaffneten Verbänden der Kosaken und der weißgardistischen Denikin-Armee durchzogen und ihre letzten Getreidevorräte geplündert.

Als dann die Ernte 1920 weit unter dem Durchschnitt ausfiel und 1921 noch ein Dürrejahr folgte, kam es zur Katastrophe. Es brach eine schreckliche Hungersnot aus, der in den Jahren 1921 / 22 Zehntausende Wolgadeutsche zum Opfer fielen. Die extreme Lage wurde viel zu spät in Moskau zur Kenntnis genommen und erst im Herbst 1921 ausländische Hilfe zugelassen. Unter anderen konnten durch die Unterstützung  des Kinderhilfswerkes des Polarforschers Fridtjof Nansen Ende 1921 80.000 Kinder der Arbeitskommune ernährt werden.

– 13 – Hungerndes Mädchen sammelt Getreidekörner auf Saratower Bahnhof. Spendekarte der Deutsch-Schweizerischen Jugend, mit deren Verkauf die Tagesmahlzeit für ein Kind  finanziert werden konnte.  

Auch die Philatelisten Sowjetrusslands organisierten Hilfsaktionen. Gut bekannt sind die im Dezember 1921 in der RSFSR verausgabten Hungerhilfemarken mit der Aufschrift „Hilfe für die Hungernden an der Wolga“. Es wird berichtet, daß diese Marken in freiwilliger Arbeit auf die breiten Ränder der Druckbogen der gleichfarbigen Freimarken gedruckt wurden, was der seltene Doppeldruck der roten Marke zu 2250 Rubel beweist. 

– 14 – Wohltätigkeitsmarke für die Hungernden an der Wolga mit Doppeldruck der gleichfarbigen Freimarke zu 1000 Rubel. Der Verkaufspreis betrug 2250 Rubel, 250 Rubel als Briefporto und 2000 Rubel für den Hungerhilfefonds.

Abrundung

Die Arbeitskommune der Wolgadeutschen stand 1922 vor schier unlösbaren Problemen. Die Bevölkerungszahl hatte sich durch Hungertod und Abwanderung entscheidend verringert. Die Aussaatfläche betrug 1921 nur 29% des Vorkriegsniveaus. Der Viehbestand war um das fünffache gesunken.

Die wolgadeutsche Führung schlug vor, die zwischen den deutschen Siedlungen und Entklaven gelegenen andersethnischen Siedlungen und Landkreise in die Arbeitskommune einzugliedern und durch diese „Abrundung“ die Überlebensfähigkeit des Gebietes zu sichern.

Am 22. Juni 1922 stimmte die Regierung der RSFSR den Vorschlägen aus Marxstadt zu, wodurch sich die Fläche des autonomen Gebiets auf 25.447 km² erhöhte und mit dem Pokrowsker Bezirk auch der dringend benötigte Anschluß an das gesamtrussische Eisanbahnnetz gewährleistet wurde. Im Ergebnis erhöhte sich die Bevölkerungszahl auf mehr als 527.000 Menschen, davon waren 67,5% Deutsche, 21,1% Russen und 9,7% Ukrainer. Das Territorium wurde in 14 Kantone gegliedert und am 25. Juli 1922 der Regierungssitz in das zentral gelegene Pokrowsk (ab 1931 Engels) verlegt.

– 15 – Arbeitskommune der Wolgadeutschen nach der „Abrundung“ im Herbst 1922.

Die territoriale Abrundung verbesserte die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen für die Wolgadeutschen. Hinzu kam die politische Wende vom Kriegskommunismus zu Lenins Neuer Ökonomischer Politik. Der Übergang von der Ablieferungspflicht zur Naturalsteuer führte zu einer gewissen Liberalisierung in der Landwirtschaft, zur Wiederbelebung des Handels und letztendlich zur allmählichen Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung.

Über die Wiederherstellung einer leistungsstarken Landwirtschaft und Industrie der Wolgadeutschen im Rahmen einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik lesen Sie im nächsten und letzten Teil.