Dr. Wolfgang Leupold

Prüfer für russische und sowjetische Philatelie

Deutsche Auswanderer in Russland – zwischen Katharina der Großen und Josef W. Stalin

Auf Basis meines Exponats der Open Philately folgt eine Artikelserie mit Episoden der deutsch-russischen Geschichte zwischen 1763 und 1941.

Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) hatten die Menschen besonders in   Hessen und dem Rheinland unter den Kriegsfolgen zu leiden. Der Hunger war so groß, dass oft nur noch Eichelbrod zum Essen blieb und dazu noch die durchziehenden Soldaten plünderten und brandschatzten.

Die Sorgen vieler deutscher Landsleute hatten sich bis zur russischen Zarin Katharina der Großen herumgesprochen, einer Deutschen aus dem Hause Anhalt-Zerbst. War es tatsächlich die Sorgen um ihre deutschen Landsleute oder eher die Suche nach fleißigen Ackerbauern und Handwerkern zur Besiedlung des Südens und Ostens ihres Riesenreiches – wahrscheinlich von beiden etwas. Die erst vor 10 Monaten zur Kaiserin Russlands gekrönte Katharina II. (Bild 1) erließ am 22. Juli 1763 das so genannte „Einladungsmanifest“.

Bild 1. Katharina II. später genannt „die Große“. 10-Rubel-Goldmünze aus dem Jahr 1764.

Darin stellte sie den Einwanderern eine Reihe von Privilegien in Aussicht. Wer sich als „Kolonist“ (Siedler) mit seiner Familie in ihrem Reich niederlasse, dem versprach sie: 30 ha besten Boden im fruchtbaren Wolgagebiet zum unantastbaren Besitz auf ewige Zeiten, ein Darlehen in Höhe von 200 Rubeln, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, freie Religionsausübung, Befreiung vom Militärdienst, uneingeschränkte Reisefreiheit, einschließlich der Rückkehr in die alte Heimat (gegen Abgabe eines Teils seines Vermögens), Selbstbestimmung in der inneren Verfassung ihrer Kolonien (Dörfer) und Wahl ihrer Schulzen, und – als besonderes Privileg – Deutsch als Amtssprache, Unterhaltung eigener deutscher Schulen, kulturelle Eigenständigkeit.

Bild 2. Sonderblock Russlands zum 275. Geburtstag Katharina II.

Die Hoffnung auf ein freieres Leben, eigenen Besitz an Grund und Boden und die Befreiung vom Militärdienst, die Vision von einer besseren Zukunft, gab wohl den Menschen die Kraft, ihre Heimat zu verlassen. So wanderten in den Jahren 1763–1767 ca. 27.000 Deutsche besonders aus Hessen und dem Rheinland nach Russland aus. Über Lübeck und die Ostsee erreichten die Einwanderer St. Petersburg, wo sie manchmal von der Zarin persönlich begrüßt wurden.

Bild 3. Postkarte der Gemeinde der heiligen Eugenia, die 1903 zum 200. Jubiläum der Gründung der Stadt St. Petersburg gedruckt wurde, mit Blick auf die Stadt und den Hafen im Jahre 1753, etwa so, wie ihn die deutschen Ankömmlinge erlebt haben.

Ein kleiner Teil der zwischen 1764 und 1767 eintreffenden deutschen Einwanderer durfte sich in der Nähe von St. Petersburg ansiedeln, genannt werden gut ausgebildete und wohlhabende Handwerker und Uhrmacher. Sie schufen in den Folgejahren einen Ring blühender Siedlungen um die Hauptstadt.

Bild 4. Faltbrief der Firma Lüdert & Schluk in deutscher Sprache an einen Handelspartner in Pernau vom November 1784 mit dem einzeiligen Stempel ST. PETERSBOVRG, der in verschiedenen Formen seit 1765 eingesetzt wurde.

Von der erfolgreichen Ansiedlung der Deutschen zeugen beispielsweise die Werbeeinträge deutscher Handwerker und Gewerbetreibender in einem St. Petersburger Wohltätigkeitsumschlag (Bild 5): „A. EBERHARD früherer R. HIPPE – Geschäft für chemische, pharmazeutische und bakteriologische Apparate… mit eigener Werkstatt“ oder „KELLER & Co.“ – Betrieb zur Herstellung von reinem Alkohol, Wodka und Likören. Hoflieferant.

Bild 5. Anzeigenbogen zugunsten des Zarin Maria Feodorowna Kinderasyls im Nennwert von 7 Kopeken wurde – wegen der Werbeeindrucke – für nur 5 Kopeken verkauft.                                  

Erste deutsche Kolonien an der Wolga

Den meisten deutschen Einwanderern stand aber der schwerste Teil der Reise noch bevor. Sie wurden in St. Petersburg für die Weiterreise mit „Tagegeld“ zur Anschaffung der notwendigen Lebensmittel unterstützt und reisten dann über Land und Wasser nach Rübinsk.

Bild 6. Schiffspost Rybinsk – Nishnij Novgorod

Von hier auf der Wolga über Nishnij-Novgorod und Kasan nach Samara und Saratow.

Bild 7. Großer runder Ankunftsstempel Saratows aus der Vormarkenzeit auf der ersten Briefmarke Russlands.

Der Winter 1764 war für die ersten Siedler aus dem Westen sehr schwer, da das Land noch nicht vermessen und keine Häuser gebaut waren, weshalb man in den Städten Samara und Saratow oder umliegenden Orten in Notunterkünften überwintern mußte.

Ab 1765 änderte sich das aber. Nach Ankunft in Saratow erhielt jede Siedlerfamilie großzügige Unterstützung zur Gründung eines Hausstandes am zugewiesenen Siedlungsort. Viele Deutsche, die in der Nähe von Saratow ankamen, siedelten sich auf der Bergseite der Wolga an, am westlichen Ufer des Flusses. Zu den ersten 1765 gegründeten Kolonien gehören DOBRINKA (deutsch: „das Gute, das Eigene“) und BALZER (Bild 8). Balzer erhielt auch noch den russischen Namen „Golyj Karamysch“ und entwickelte sich dank der günstigen Lage zu einem Gebietszentrum mit mehr als 10.000 Einwohnern um 1900.

Bild 8. Zweisprachige Stempel der deutschen Kolonien Nischnaja Dobrinka und Balzer aus der Zeit der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen.

Die östliche Seite der Wolga wird auch Wiesenseite genannt. Sie ist durch riesige ebene Flächen ohne Hügel und Wälder gekennzeichnet. Hier fanden die deutschen Kolonisten besonders fruchtbaren Boden vor, der sich gut für den Anbau von Getreide und Kartoffeln eignete. Zu den ersten deutschen Kolonien auf der Wiesenseite gehörten KRASNYJ JAR und URBACH. Auf Grund der natürlichen Gegebenheiten fanden die Siedler hier aber keine Bruchsteine vor und wenig Holz, wodurch sich der Bau der ersten Häuser erheblich erschwerte. Die ersten Siedler bauten ihre Häuser aus so genanntem LEIMSTEIN. Aus dem überall auf der Wiesenseite zugänglichen salpeterhaltigen schwarzen Ackerboden, vermischt mit Stroh, Sand und Wasser stellte man Steine her die getrocknet wie Ziegel verbaut wurden.

So wurden zwischen 1765 und 1767 etwa 100 deutsche Kolonien links und rechts der Wolga gegründet. Eine besonders bemerkenswerte deutsche Kolonie ist auf den

Werber im Dienste der russischen Regierung, Baron Beauregard, zurück zu führen. Er empfahl den deutschen Siedlern, sich 55 Kilometer nordöstlich von Saratow  niederzulassen. Hier gründeten sie zwischen 1765 und 1767 eine Kolonie, die zu Ehren der Zarin Katharina II. den Namen KATHARINENSTADT erhielt. Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt die Stadt einen zweiten offiziellen Namen zu Ehren des Barons Beauregard, BARONSK und 1920 wurde es in MARXSTADT umbenannt (Bild 9).

Bild 9. Gesiegelter Geldbrief aus Katharinenstadt mit dem russischen Stempel ЕКАТЕРИНEHШТАДТЪ und einem blauen Klebezettel für Wertbriefe mit der Ortsbezeichnung Baronsk. (Die deutschen Brüder Vinschu sandten darin 1 Rubel an die Bürksche Handelsschule München.)

Ein Zeitgenosse berichtet wenige Jahre nach Eintreffen der ersten deutschen Siedler  darüber, dass es durch Mut, Ausdauer und ständige harte Arbeit, unter Einsatz aller Familienangehörigen und unter Verzicht auf alle persönlichen Wünsche, gelungen sei, schon nach acht Jahren aus dem einst öden, baumlosen und feuchten Steppenland ein Kulturland zu schaffen, das nicht nur die russischen Nachbarn, sondern auch Besucher in Staunen versetzte.

Und nach zwanzig Jahren hatten sich die ursprünglich 104 konfessionell homogenen Mutterkolonien (73 evangelische und die 31 katholische Dörfer) der steuerlich und politisch privilegierten Deutschen zu wirtschaftlich stabilen Einheiten entwickelt – mit eigenen Bürgermeistern, Kirchen und Schulen.

Ein Teil der gut ausgebildeten deutschen Einwanderer erkannte schnell die Chancen, sich in einer der beiden großen Städte des Wolgagebiets Samara oder Saratow als Handwerker oder Gewerbetreibender nieder zu lassen. Das wurde ebenfalls vom russischen Staat unterstützt,  erwartete man sich damit eine befruchtende Wirkung auf russische Firmen und mögliche Investitionen aus Deutschland. Daß sich diese Hoffnungen bestätigt haben, zeigen Werbeeinträge verschiedener Handelshäuser, Handwerker und Gewerbetreibender aus Samara auf einem Wohltätigkeitsumschlag der Zarin Maria (Bild 10) mit vielen deutschen Adressen, z.B.: M. FLEKKEL, „… Herstellung neuer- und Reparatur alter Kutschen“, Musikhaus E.F. Behm, Modehaus Sch. O. KIRST, und rückseitig – Gebrüder KLODT – Repräsentanten der Firma Otto Deuz.

Bild 10. Sehr seltener Anzeigenbogen für Samara im Nennwert von 7 Kopeken für einen Fernbrief. Er wurde – wegen der Werbeeindrucke – für nur 5 Kopeken verkauft. Nur zwei  beförderte Bogen bekannt.

Herrnhuter Brüder gründen Sarepta

Kehren wir zurück in das Jahr 1765. Dem Einladungsmanifest Katharinas II. folgten  auch fünf Brüder der Herrnhuter Brüdergemeinde. Von Lübeck reisten sie nach St. Petersburg, legten den Treueid auf die Zarin ab und reisten mit sieben Wagen und 17 Pferden über Moskau nach Nishnij Nowgorod und per Schiff über Saratow nach Zarizyn. 25 km von der Stadt entfernt am südwestlichen Ufer der Wolga erhielten sie über 6000 ha Land und gründeten die Herrnhuter Kolonie SAREPTA. 

Den fünf Gründern folgten in den nächsten Jahren noch viele Herrnhuter Brüder nach.

Bild 11. Holzstich mit Blick auf die Herrnhuter „brüderische Siedlung“ in Sarepta

Da das Land wegen des hohen Salzgehalts nur bedingt zur Landwirtschaft geeignet war, widmeten sich die Brüder von Anfang an zur Freude der russischen Regierung dem Handel und der Entwicklung von Gewerbe und Industrie. Ausgehend von ihren handwerklichen Fertigkeiten verarbeiteten die Brüder zuerst die Häute der benachbarten Kalmücken zu Leder und stellten Textilien aus Baumwolle her. Die speziellen Baumwollstoffe machten die Brüder unter dem Markennamen Sarpinka berühmt. Bereits 1768 wurde eine Fabrik erbaut, die importierten und regionalen Tabak verarbeitete.

Bild 12. Handbemalte Postkarte mit freundschaftlichen Worten aus Sarepta an Custos KüpperHerrnhut.

Der idyllische Anblick  einer Wassermühle Sareptas (Bild 12) zeugt von Ordnung, Sauberkeit und Eintracht der deutschen Siedler.

Mennoniten aus Westpreußen kolonisieren die Südukraine

Deutsche Mennoniten hatten sich bereits im 16. Jahrhundert durch Trockenlegung von Sümpfen und durch Urbarmachung von Neuland in Polen einen Namen gemacht. Diese kolonisatorische Tüchtigkeit war ein Grund dafür, dass sie zusammen mit anderen Deutschen Ende des 18. Jahrhunderts von Zarin Katharina II. ins Schwarzmeergebiet eingeladen wurden. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und religiöse Anfeindungen in Preußen einerseits und die Gewährung vieler Privilegien in Russland andererseits führten dazu, daß Mennoniten nach Südrussland auswanderten. Sie waren gute Landwirte und brachten eigenes Vieh, landwirtschaftliche Geräte und Saatgut mit.

Als erste Mennonitensiedlung in Russland wurde 1789 die aus mehreren Dörfern bestehende Kolonie Chortiza nahe dem heutigen Saporischja gegründet.

Bild 13. Rückseite einer in CHORTIZA abgestempelten Postkarte aus der benachbarten Mennoinitensiedlung Kanzerowka, auch als ROSENTAL bekannt, in der der örtliche Fotograf Thiessen in feinster deutscher Schrift in Leipzig um eine Preisliste für photographische Bedarfsartikel bittet.

Aus dem Chortizaer Gebiet stammt auch eine kleine philatelistische Rarität der Neuzeit. 

Bild 14. Postkarte vom 31.VII.1931 aus Schönwiese gestempelt Alexandrovsk / Voksal 1.8.31 nach Berdyansk (3.8.31). frankiert mit einer halbierten 10 Kopeken-Marke zum 25. Jahrestag der 1905-er Revolution (Mi.-Nr. 396A). Auf der Rückseite in gutem deutsch Nachrichten an Verwandte.

Die in Bild 14 gezeigte bedarfsmäßige Halbierung aus der kleinen deutschen Kolonie Schönewiese geht auf eine Portoerhöhung per 1.Juni 1931 zurück. Man benötigte plötzlich für die vorhandenen 5-Kopeken-Postkarten 5 Kopeken Zusatzfrankatur, die nachweislich in der kleinen Bahnstation Alexandrovsk nicht verfügbar waren. So behalf man sich durch Halbierung der vorhandenen 10-Kopeken-Marken.

Katharinas Sohn, Zar Paul I. setzte die Werbung deutscher Einwanderer fort, in dem er

im Jahre 1800 den pazifistischen Mennoniten das so wichtige Privileg der Befreiung vom Wehrdienst „auf ewige Zeiten“ verkündete. Dies führte zum Zuzug vieler westpreußischer Mennoniten, die über Riga, Kiew und den Dnepr anreisten. So entstanden viele Siedlungen am Fluss Molotschnaja (Milchfluss) nördlich des Asowschen Meeres. Zwischen 1803 und 1806 bauten 365 Familien die spätere Mutterkolonie MOLOTSCHANSK auf, 1819–20 kamen weitere 254 Familien. 1835 zählte Molotschansk (auch Halbstadt genannt) schon 1200 Familien mit 6000 Personen und 130.000 Hektar Land.

Bild 15. Inflationsbrief aus Molotschansk vom 30.10.21 portogerecht mit 1000 Rubel frankiert. Die vorderseitig 20 Marken zu 20 Kopeken und die rückseitig 40 Marken zu 15 Kopeken waren seit 1920 100-fach aufgewertet.

Die Verbindung zur deutschen Heimat riss nie ab, was der an den „Evangelischen Hauptverein für deutsche Aussiedler und Auswanderer e.V.“ in Witzhausen adressierte Brief (Bild 15) aus dem Jahre 1921 beweist.

Zar Alexander I. ruft deutsche Siedler Anfang des 19. Jahrhunderts ans Schwarze Meer

In den Friedensverträgen von Küzük Kanardzi (1774) und Jassy (1792) mit dem Osmanischen Reich sicherte sich Russland die gesamte Nordküste des Schwarzen Meeres bis hin zur Dnester. Neben Griechen, Albanern, Armeniern und Slawen lud Anfang des 19. Jahrhunderts Zar Alexander I. auch Deutsche zur Besiedlung dieser Länderein ein.

Bild 16. Probedruck. Einzelabzug des Mittelstücks der 20 Kopeken-Marke mit dem Bildnis Alexander I. aus der Markenserie zum 300-jährigen Jubiläum der Romanow-Dynastie (er war verheiratet mit Prinzessin Luise von Baden).

Belastet durch zunehmende Steuerabgaben und Rekrutierungen für die Napoleonischen Kriege kamen die ersten Siedler aus Südwestdeutschland. Auf so genannten „Ulmer Schachteln“ auf der Donau bis Galatz und von hier auf dem Landweg bis Odessa, wo sie vom „Neurussischen Fürsorgekontor“ betreut und angeleitet wurden.

Bild 17. Ansichtskarte aus den 30-er Jahren mit Darstellung einer „Ulmer Schachtel“

Als Gründungstag der schwarzmeerdeutschen Kolonien im Gebiet Odessa gilt der 17. Oktober 1803, an dem Zar Alexander I. Land für die Kolonisten ankaufte. Als erste Kolonie entstand 1804 GROßLIEBENTHAL.

Bild 18. Brief von Christian Heinrich Frieß mit Stempel: ГРОСЪ ЛИБЕНТАЛЬ ХЕРСОН Г. 1893 aus Großliebenthal an seinen Bruder Johannes nach Tübingen.

Von Württembergern wurde 1805 westlich von Großliebenthal am Fluß Baraboy die deutsche Kolonie ALEXANDERHILFgegründet. Hier wurde 1896 Karl Stumpp geboren, besuchte das Deutsche Gymnasium in Odessa, studierte in Tübingen und schrieb 1922 seine Doktorarbeit über die Geschichte der deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet.

Bild 19. Brief an Karl Stumpp von einer Luise Stumpp aus Alexanderhilf über Odessa nach Tübingen. Als Stempel diente das Siegel der noch 1921 arbeitenden Semstwoverwaltung. Auf der Rückseite des mit 20 Rubel frankierten Inflationsbriefes befindet sich ein provisorischer Einschreibzettel, auf dem mit Schreibmaschine und russischen Buchstaben geschrieben steht „Alexanderhilf Odesaer Gub“.

1808 erfolgte eine zweite Einreisewelle aus Baden und dem Elsass, die zur Gründung des Kolonistenbezirks Glückstal führte. Eine dieser Kolonien erhielt den Namen GNADENFELD.

Bild 20. Postkarte aus Gnadenfeld von der Buch- u. Schreibwarenhandlung Töws und Penner mit einer Bestellung bei der Buchhandlung Wallmann in Leipzig.

Durch Reformen im kirchlichen Bereich waren besonders die Pietisten in Südwestdeutschland in Unruhe geraten. Hinzu kamen schlechte Ernten in den Jahren 1809–1816. Dies hat viele Tausend Menschen dazu gebracht, ihre Heimat in Richtung Schwarzmeergebiet zu verlassen. Beispielsweise kamen 1817 vierundsechzig Familien aus Württemberg im Chersoner Gebiet an, denen 90 km nordwestlich von Odessa Land zur Besiedlung zugewiesen wurde, das ursprünglich bulgarische Kolonisten bearbeiten wollten. Dort gründeten die Württemberger 1819 die Kolonie HOFFNUNGSTAL, die bereits 1835 das Marktrecht erhielt.

1847 wurde die erste Kirche errichtet. 1848 lebten bereits 850 Menschen im Ort.

Bild 21. Ansichtskarte der Kolonie Hoffnungstal

Die Schwarzmeerdeutschen wirtschafteten anfangs fast ausnahmslos als Landwirte auf Boden, den ihnen der russische Staat zur Verfügung gestellt hatte. Bis 1859 nutzten sie das Privileg, ihr Getreide über den Schwarzmeerhafen Odessa zollfrei auszuführen. Neben Getreide wurde auch Gemüse, Wein und Obst angebaut. Die günstigen Anbau- und Absatzbedingungen führten zu Wohlstand unter den Kolonisten. Viele ausgewanderte deutsche Handwerker ließen sich auch in Odessa nieder und gründeten Betriebe, aus denen sich später Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen entwickelten.

Es ist mündlich überliefert, dass dem Zaren Alexander I. während der Koalitionskriege gegen Napoleon zu seinen Mahlzeiten oft württembergische Weine aufgetischt wurden. Diese sollen ihm so gut gemundet haben, dass er schwäbische Weinbauern einlud, auf der Halbinsel Krim Weinbau nach Schwäbischer Art zu betreiben. 1805 landeten die ersten deutschen Weinbauern mit Schiffen an der Südküste der Krim und gründeten in der Nähe des russischen Städtchens Sudak eine Weinbauernsiedlung. In der Folge entstanden im 19. Jahrhundert fast 300 deutsche Siedlungen auf der Krim.

Bild 22. Antwortkarte auf eine deutsche Hilfssendung aus dem Jahre 1933 mit zweisprachigem Stempel. Unter der russischen Ortsangabe in Deutsch: CRIM  DGANKOJ.

Im Nordosten der Halbinsel Krim bildete sich DSCHANKOJ als wirtschaftliches Zentrum vieler benachbarter deutscher Kolonien heraus und erhielt 1926 das Stadtrecht.

Zar Alexander I. lädt 1813 deutsche Landwirte und Handwerker nach Bessarabien ein

Durch den Friedensvertrag von Bukarest kam 1812 Bessarabien zu Russland. Der Einladung Zar Alexanders I. folgend, wanderten zwischen 1814 und 1842 etwa 2000 Familien mit 9000 Personen aus Baden, Württemberg, dem Elsass und Bayern nach Bessarabien ein. Die ersten Dörfer erhielten Namen, die an Orte siegreicher Schlachten gegen Napoleon erinnerten. Als eine der ersten deutschen Siedlungen wurde 1814 TARUTINO gegründet.

Bild 23. Von der Buchhandlung Bühler / Tarutino hergestellte Ansichtskarte mit deutscher und russischer Beschriftung „Tarutino, Beresin-Postaler Kreuzstraße“.

1822 gründeten 70 Familien katholischen und evangelischen Glaubens aus Bayern und Württemberg mit ihrem Anführer Pfarrer Ignatz Lindl auf 16.000 Desjatinen (etwa 18.000 ha) vom Zaren zugewiesenem Land die Kolonie SARATA. Jede Familie erhielt 65 ha vererbbares Ackerland. Auf den fruchtbaren Böden wurde vor allem Getreide angebaut, in Mühlen vor Ort gemahlen und in die größeren Städte der Umgebung gebracht, so auch nach Odessa.

Bild 24. Vom Verlag Albertz Knauer / Sarata hergestellte Ansichtskarte zum 100. Jubiläum der Ortsgründung.

In Sarata wurde 1843 eine Kirche und 1844 eine deutschsprachige Lehrerausbildungsanstalt errichtet, wodurch sich der Ort zum kirchlichen- und Bildungszentrum der Deutschen in Bessarabien entwickelte.

In der 1865 gegründeten deutschen Kolonie Ryschkanowka in Nordbesarabien lebten übrigens die Eltern des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler.

Bild 25. Medaille aus dem Jahre 2004 zu Ehren von Horst Köhler, dessen Eltern bis 1940 in Bessarabien lebten.

Gründung deutscher Kolonien im Kaukasus

Während der Teilnahme am Wiener Kongress besuchte Zar Alexander I. Stuttgart und wurde Zeuge der Unterdrückung lokaler Bauern, die verschiedenen protestantischen Sekten angehörten. Durch die verwandtschaftlichen Beziehungen des Zaren mit dem württembergischen Königshaus (auch seine Mutter Sophie-Dorothea war eine württembergische Prinzessin) hatte er Verständnis für die Probleme der religiösen Gemeinschaften. Ein Gesuch an Zar Alexander mit siebenhundert Unterschriften von Familien, die nach dem Kaukasus auswandern wollten und um Zuteilung eines für Obst- und Weinbau geeigneten Ansiedlungslandes baten, wurde von ihm 1817 genehmigt.

Georgien

Zwischen 1817 und 1819 wanderten 2.629 schwäbische Pietisten in Georgien ein. Unterstützt von der russischen Regierung gründeten sie nahe Tiflis acht Kolonien, die so genannten „Schwabendörfer“. Den größten Ort bildete KATHARINENFELD. Der Name sollte Großfürstin Katharina Pawlowna, Tochter des russischen Zaren Paul I. ehren.

Bild 26. Ausschnitt aus einem gesiegelter Kaufvertrag, in dem Georg Jacob Kusterer sein geerbtes Grundeigentum in Heimerdingen an seinen Bruder für 700 Gulden verkauft, vom 15.1.1835 mit Ortsangabe „Katarinfeld“.

Der Siegelbrief aus dem Jahre 1835 erzählt eine Episode des Einwanderers Georg Jacob Kusterer, der bereits 1810 aus Württemberg nach Südrussland ausgewandert war. Er schloss sich 1817 dem Tross in den Südkaukasus an und war einer der Mitbegründer der deutschen Siedlung Katharinenfeld.

Bild 27. Ansichtskarte mit deutscher und russischer Beschriftung: Katharinenfeld (Kaukasus) Pastorat.

Für die schwäbischen Pietisten war neben der Befreiung vom Wehrdienst wohl die vom Zaren zugesicherte Glaubensfreiheit der wichtigste Beweggrund ihrer Einwanderung. Der Fleiß der Kolonisten, gepaart mit dem günstigen Klima und guten Böden, führte bald zu Wohlstand, wovon auch das prächtige Pastorat in Katharinenfeld zeugt.

Aserbaidschan

Vorwiegend protestantische Familien aus Schwaben gründeten 1818 die erste deutsche Kolonie in Aserbaidschan und gaben ihr den Namen HELENENDORF nach der Großfürstin Helena Pawlowna, Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin. Die ersten Jahre waren sehr schwer. Die Kolonisten mussten sich erst an das ungewohnte Klima mit großer Hitze am Tag und kalten Luftströmen vom Gebirge in den Nächten gewöhnen und ihren Tagesablauf anpassen. Auch wurden sie von Malaria und Typhus heimgesucht; sie mussten lernen, nur abgekochtes Wasser zu trinken. Trotzdem entwickelten sie sich bald zu erfolgreichen  Weinbauern.

Die Gemeinde-Selbstverwaltung erfolgte in den deutschen Kolonien gewöhnlich wie folgt:

  • Beschlussfassendes Organ in einer Kolonie war die Gemeindeversammlung, zu der jeder Hof einen Vertreter entsandte.
  • Die Gemeindeversammlung wählte den Dorfschulzen, dem im System der Selbstverwaltung eine entscheidende Leitungsfunktion zukam.

Bild 28. Ausschnitt aus einer Bescheinigung über die Auszahlung von 220 Gulden an das Schulzenamt in Helenendorf als Betrag des Vermögens des in Helenendorf verstorbenen Alex Binder, gesiegelt am 23. März 1854 mit einem Siegelabschlag in russ. Sprache des „Helenendorfer Landwirtschaftsamtes“.

Ebenfalls 1818 wurde 40 km von Helenendorf entfernt die deutsche Kolonie ANNENFELD gegründet. Während es in den schweren Gründerjahren manchmal mehr Sterbefälle als Geburten gab, wuchsen die Kolonien im Laufe der Jahre durch Kinderreichtum an und schöne Häuser entstanden. Die Einwandererfamilien hatten für gewöhnlich fünf bis sieben Kinder, zehn bis zwölf waren keine Seltenheit. Der Kinderreichtum führte schon in der zweiten Generation zu Bodenknappheit. Die Deutschen machten von ihrem Privileg des Zukaufs von Land ausgiebig Gebrauch, wodurch auch im Kaukasus zahlreiche Tochterkolonien entstanden.

Obwohl 1871 Zar Alexander II. die „Regeln für die Organisation der Siedler-Eigentümer“ und die „auf ewige Zeiten“ gewährten Sonderrechte aufhob, schafften es die deutschen Kolonien in stetem Aufwärts bis zum ersten Weltkrieg ihre kulturelle und wirtschaftliche Blütezeit zu erleben. Großflächige Weingärten, Brennereien und Keltereien hatten sie geschaffen, höchste Hektarerträge mit Spitzenweinen erzielt, mit denen sie in ganz Russland einen sehr guten Ruf begründeten.

Bild 29. Brief vom 23.4.1923 aus Annenfeld, das sich nach der Oktoberrevolution in der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik befand, die sich am 13.12.1922 mit der Grusinischen und Armenischen Sowjetrepublik zur Transkaukasischen Sowjetrepublik vereinte. Die Frankatur besteht aus einer Marke der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik und zaristischen Freimarken zu 35 Kopeken, die als Marken der Transkaukasischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ЗСФСР) mit einem roten Sowjetstern und den Buchstaben ЗСФСР überdruckt sind. Die Marken wurden mit einem großen runden Siegelstempel des Annenfelder Postamtes entwertet.

Von Seiten der Russischen Regierung waren aber nicht nur gute Landwirte aus Deutschland willkommen, sondern auch Ingenieure, die Firmen gründeten und bei der Erschließung der Bodenschätze halfen. So errichteten beispielsweise die Brüder Siemens im 19. Jahrhundert in Kedabeg, nahe Helenendorf, eine Kupferhütte.

Bild 30. Ansichtskarte mit Blick auf das Siemenswerk, rückseitig mit Poststempel Helenendorf aus dem Jahre 1913

Auf die weitere Entwicklung der deutschen Kolonien bis hin zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Deutschen an der Wolga wollen später eingehen.